Er repräsentiert vor allem die spirituelle Dimension des Islams, weil er den Menschen zur Erkenntnis führen möchte: zur Erkenntnis des wahren Wesens Gottes, des Menschen und des Seins. Durch spirituelles Training, Askese und mystische Erfahrung, aber auch durch die Schulung seines Verstandes streift der Sufi seine Selbst-Zentriertheit ab und öffnet sich ganz dem Licht Gottes. Sufis sind Menschen, die den höchsten Rang universeller oder vollkommener Menschen anstreben.
Sufismus bedeutet etymologisch so viel wie „sich in Wolle kleiden“ (d.h., einfache Kleidung tragen, wie dies z.B. die Derwische vor allem in der Frühzeit des Sufismus taten und auch heute noch tun). Ein Sufi übt sich nicht nur in seinem äußeren Erscheinungsbild in Bescheidenheit und versucht, sich der eigenen Bedürftigkeit und Bedeutungslosigkeit bewusst zu werden. Er stellt seine eigenen Interessen zugunsten der Ansprüche Gottes zurück und bekennt dabei aufrichtig seine Verbundenheit mit Gott.
Der Sufismus erfordert eine strikte Befolgung der religiösen Pflichten, Enthaltsamkeit in der Lebensführung und den Entschluss, triebhaften Gelüsten so weit wie möglich zu entsagen. Die ständige Kommunikation mit Gott hilft dem Sufi zu verinnerlichen, dass er ein Diener Gottes ist. Das macht ihn aufnahmebereit für jene Welt, die sich hinter der üblicherweise wahrgenommenen Welt verbirgt. Im Laufe eines langen Prozesses – vergleichbar mit einem Marathonlauf – vervollkommnet der Sufi die „Engelsseite“ seiner Existenz und eignet sich ein tief empfundenes und erfahrenes Bewusstsein um die Lehren und Wahrheiten des Glaubens an, die er zuvor nur oberflächlich akzeptiert hat. Der Sufismus möchte alle Hindernisse zwischen Gott und dem Menschen aus dem Weg räumen. Aber nur wer alle irdischen Angelegenheiten hinter sich lässt, kann bis zum verborgenen Geheimnis Gottes vorstoßen und Gott intuitiv und direkt schauen.
In der islamischen Geschichte begegnet uns der Sufismus erstmals in der Gestalt von Abu Haschim al-Kufi (gest. 767). Spirituelle Menschen wie er folgten in ihrer Lebensweise dem Vorbild des Propheten Muhammad und seiner Gefährten. Darum wird der Sufismus auch gern als die spirituelle Dimension des Islams bezeichnet. Sein ursprünglicher Zweck bestand darin, die Menschen zu erziehen, ihre Herzen auf Gott auszurichten und sie von der Liebe zu Ihm zu entflammen. Er konzentrierte sich, ganz dem Beispiel des Propheten folgend, auf Tugendhaftigkeit und Wohlverhalten.
Auch wenn sich der Sufismus vor allem auf die innere Dimension des Menschen konzentriert, die religiösen Gebote auf ihre Bedeutungen und Auswirkungen auf Seele und Herz des Menschen untersucht und somit abstrakt ist, basiert er zweifelsohne auf Koran und Sunna. Seine Quelle liegt – wie die anderer religiöser Wissenschaften auch – im Koran, in der Sunna und in den Schlüssen, die die aufrichtigen Gelehrten der Frühzeit des Islams aus diesen beiden Quellen zogen – dem Idschtihâd (Siehe Kap. 13). Insofern unterscheidet sich der Sufismus zum Beispiel von hinduistischen oder anderen Pfaden der Selbstreinigung und der Askese.
Quelle: Mertek, Muhammet (2012), Der Islam: Glaube, Leben, Geschichte, INID/Hamm.